Wolfgang Pauly, Prof. für kath. Theologie an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität (RPTU) in Landau hat anlässlich des Käsekuchenfest am 11. September 2024 in der Buchhandlung Bücherknecht Ruth Landys "Oma Minas Käsekuchen" vorgestellt. Der Text kann hier aös pdf-Datei heruntergeladen werden. Er wird im folgenden auch dokumentiert:
Buchvorstellung: Ruth Landy: „Oma Minas Käsekuchen“
11.9.2024 Buchhandlung Knecht, Landau
Ein ungewöhnliches Buch soll heute vorgestellt werden. Ein Koch- und Backbuch und zugleich eine Familienchronik. Dabei ist das Buch auch ein Werk über starke Frauen. Wilhelmina („Mina“) ist Ehefrau, Mutter, Köchin und beliebte Gastgeberin. Sie wird 1869 in Östringen in eine jüdische Familie geboren – also noch vor der Reichsgründung. Sie heiratet den 1856 in Lustadt geborenen jüdischen Kaufmann Jakob Weil.
1891 wird die Tochter Erna in Lustadt geboren. Es ist somit mitten in der Zeit des deutschen Kaiserreiches mit seinen bürgerlichen Aufbrüchen. Landau ist von dieser Gründerzeit besonders nach dem Schleifen der Festungswälle durch seine Ringstraßen geprägt. Erna heiratet den Weinhändler Heinrich Levy.
Deren Tochter Sue kommt 1922 in Landau zur Welt. Es ist die unruhige Zeit der Weimarer Republik nach dem ersten Weltkrieg mit all ihren Chancen und Gefahren für Demokratie und jüdisches Leben in Deutschland. Sues Bruder Ernest wurde bereits mitten im Krieg 1916 geboren. Ernst heiratet die 1928 geborene Cynthia nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA. Dort wird aus dem Familiennamen Levy nun Landy. Ernest und Cynthia sind die Eltern der 1952 in Genf geborenen Buchautorin Ruth Landy. Es ist die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg mit seinen neuen politischen Ordnungen, Spannungen und Gefahren.
Mina, Erna, Sue, Cynthia und Ruth - jede Frau repräsentiert eine ganze Epoche. Zugleich steht jede Frau und die jeweilige Epoche für das Gelingen und Misslingen der deutsch-jüdischen Beziehung und damit auch der christlich -jüdischen Begegnung.
Ernests und Sues Mutter Erna will ihren Kindern nach dem Tod ihres Mannes in die Emigration folgen. Der Dampfer St. Louis legt am 13. Mai 1939 in Hamburg ab und erreicht am 27.Mai den Hafen von Havanna in Kuba. Hier gibt es allerdings keine Anlegegenehmigung und ebenso wenig eine Einreiseerlaubnis für die Passagiere. Nach langer Irrfahrt entlang der Küste von USA und Kanada fährt die St. Louis am 6. Juni wieder nach Europa zurück. Das Schicksal von Erna macht die Tragödie zahlreicher Migranten aller Zeiten deutlich: keiner will sie haben.
Die zentrale Gestalt des Buches ist aber Oma Mina, sie ist der „Fels der Familiengeschichte“. Aus ihrem Heimatland, das ihr und ihrer Familie zum Land der Unterdrückung und Verfolgung geworden ist, flüchtet sie im Mai 1940 mit ihrem Mann in die Niederlande. Am 16.Dezember 1940 können sie dort unter den Bedingungen des Exils noch ihren 50. Hochzeitstag feiern. Nach dem Tod ihres Ehemanns Jakob wird Mina am 30.8. 1941 in ihrem Zufluchtsland verhaftet. Sie geht den tragischen Weg der Anne Frank, deren Familie wir hier in Landau im Frank-Loebschen Haus gedenken. Nach dem Durchgangslager Westerborg wird sie mit vielen Leidensgenossen in Viehwaggons nach Auschwitz transportiert. Namenlos, ohne bekanntes Todesdatum in Auschwitz stirbt sie nicht – nein, sie wird umgebracht und ermordet.
Das Buch von Ruth Landy erinnert an diese exemplarische Familie und an deren starke Frauen. Das erste Großkapitel trägt die Überschrift „Geschichte unseres deutsch-jüdischen Erbes“. Im zweiten Teil geht es dann um „Familienschätze und Rezepte“. Auffallend ist in der Überschrift „Geschichte unseres deutsch-jüdischen Erbes“ das im weiteren Text wiederholt vorkommende Wort „unser Erbe“. Was bedeutet in diesem Zusammenhang „unser“?
Da geht es zunächst um „unsere“ Familie, um die Personen von der Urgroßmutter der Autorin bis zu ihr selbst und den zahlreichen Großnichten und Großneffen.
„Unser“ bedeutet aber auch die Geschichte der Heimat und Gesellschaft der Familie Levy / Landy. Wir heutige Leser der Stadtbevölkerung Landaus sind gemeint. „Wir“ – in der Mitte unserer Vorfahren haben sich die im Buch erzählten Geschichten abgespielt. Die Geschichte der Familie Levy ist Teil „unserer“ Stadtgeschichte. Daran zu erinnern ist gerade 2024 von zentraler Bedeutung, dem Jahr des 750. Jubiläums der Erhebung Landaus zur Stadt.
Schreckliches geschah mitten in dieser Stadt an Menschen durch Menschen. Im Zusammenhang der Familien Weil, Levy, Landy und vielen Schicksalsgefährten heute von „Wieder – Gut – Machung“ zu reden, ist zynisch. Was diesen Menschen angetan wurde, ist nie wieder „gut“ zu machen.
Gerade deswegen ist es bemerkenswert, dass sich heute in dieser Stadt Landau junge Menschen engagieren. Sie erinnern sich und uns an die Geschichte, sie halten inne und tun nach außen kund, was hier geschehen ist.
Schülerinnen und Schüler des Max-Slevogt-Gymnasiums recherchieren Biographien der Verfolgten, Vertriebenen und Ermordeten. Sie lesen daraus in der Öffentlichkeit bei Gedenkveranstaltungen. Stellvertretend sei das Engagement ihrer Lehrerin Frau Dr. Dominique Ehrmantraut erwähnt. Mit den auch vor ihrer Schule verlegten Stolpersteinen geben sie den anonymen Opfern wieder einen Namen, ein Gesicht, eine Identität.
Die Schülerinnen und Schüler nehmen die Opfer in ihr eigenes Leben auf, sie lassen deren Geschichte Teil ihrer eigenen Geschichte werden. Dadurch gibt es nach dem Tiefpunkt der braunen Stadtgeschichte Landaus mitten in dieser Stadt auch wieder Zeichen der Hoffnung. Erinnerung wird lebendig und die Hoffnung, dass auch in dieser Stadt glückliches und erfülltes Leben für alle möglich ist.
13 Rezepte werden im Buch ausführlich beschrieben. Dabei sind z.B. typische jüdische Rezepte wie das für die Matze-Kugelsuppe oder für das deutsch-jüdische Zeremonienbrot „Berches“. Warum aber hat ausgerechnet der Käsekuchen in der Familie Levy / Landy und deswegen auch im Buch eine so große Bedeutung? Was hat Käsekuchen mit dem Judentum zu tun?
Im Buch wird die lange Tradition der Käsekuchen-Herstellung von der griechisch-römischen Zeit bis zur Gegenwart beschrieben. Er ist aber auch ein Markenzeichen von Minas Lebenskultur. In ihm ist in allen Höhe- und Tiefpunkten der Familiengeschichte sinnlich die „Süße des Lebens“ vernehmbar. Käsekuchen begleitet die Familie in der heimatlichen Pfalz, im Exil in den Niederlanden bis hin zur Emigration in die USA.
Käsekuchen steht für die kleinen Dinge des Lebens. Diese tragen das Leben, stiften Leben und lassen leben. Dies ist nicht ein äußerliches Geschehen. Gefordert ist vielmehr eine ganzheitliche Haltung: „Kuchen ist Kunst, aber vor allem ist es eine tägliche Übung“. Eine innere Einstellung wird hier äußerlich sichtbar. Im Käsekuchen wird über Generationen deutlich: Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gerade für diese kleinen Dinge des Lebens: „In diesem einfachen Kuchen ist die Vergangenheit noch in jedem Bissen präsent: der Geschmack der Familie, der Geschmack der Heimat“.
Damit zeigt sich auch eine Verbindung zum Familiennamen Levy / Landy. Die Leviten Israels waren nicht die bedeutenden Leiter die Liturgie am Tempel, schon gar nicht die Hohepriester mit ihrer wichtigen Funktion am Jom Kippur. Ihre Aufgabe lag vielmehr in den kleinen Dingen des Tempeldienstes. Ihnen ging es um die Alltagsfrömmigkeit im Tempel. Religion ist für sie keine abstrakte und theoretische Idee, sondern eine Praxis für Leib und Seele.
So auch der Käsekuchen: in ihm wird das Leben gefeiert, ein Käsekuchentag ist ein Feiertag.
Auch das Leo-Beck-Institut, das heute bei dieser Präsentation zugeschaltet ist, hat sich seit seiner Gründung in New York und Berlin im Jahre 1955 zur Aufgabe gemacht, in seiner Forschungsbibliothek und in seinem Archiv Alltagsgegenstände zu sammeln, die das Leben und die Kultur der Juden dokumentieren. Oft wurden diese Gegenstände gerade von Flüchtlingen gespendet. In den kleinen Dingen, in den unscheinbaren Gesten des Alltags und in den scheinbar profanen Handlungen inmitten der Alltags-Lebenswelt wird Großes sichtbar – auch im Käsekuchen. In ihnen wird anschaubar, was Leo Beck noch am Tag seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager sagte: „Man soll keine Rache im Herzen haben, nur Liebe und Gerechtigkeit“ – konkret, vor Ort, im Alltag.
Dieser Alltag ist aber immer sozial, kommunikativ. Man backt wohl ganz selten einen Käsekuchen nur für sich allein und isst ihn dann auch noch allein nur für sich. Kuchen backen und essen ist ein soziales Geschehen. Einen Kuchen teilen und diesen gemeinsam essen bedeutet, sich selbst teilen, sich den anderen mit-teilen beim Zusammensein mit anderen und im Gespräch mit ihnen.
Ein Käsekuchen enthält viele Zutaten. Darunter auch ½ Teelöffel Salz und 2 Teelöffel Zucker. Ist dies nicht merkwürdig? Süß und salzig – zwei Gegensätze verbinden sich in einem Kuchen, wie auch bei vielen anderen Speisen. Wie können solche Gegensätze zusammengehen? Andererseits: fehlt eines dieser beiden Elemente, wird der ganze Kuchen anders. So wie der konkrete Käsekuchen ist, ist er nur durch diese beiden gegensätzlichen Elemente. Diese beiden verleihen dem Kuchen seinen besonderen Geschmack. Sie verhelfen ihm zu seiner ganz eigenen „Kuchen-Identität“.
Auch zur Identität von Oma Mina gehört beides: die „Süße des Lebens“ und das bittere Ende. Ohne diese beiden gegensätzlichen Elemente wäre es nicht: Oma Mina. Ohne diese beiden Seiten zu betrachten, würde man dem Leben von Oma Mina nicht gerecht.
Mina hätte nie gedacht, erwartet, gehofft, dass sich 155 Jahre nach ihrer Geburt und 83 Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod Menschen in ihrer Heimat versammeln, um ihr Vermächtnis zu feiern – und sie selbst zu feiern. Feiern – trotz des bitteren Lebensendes, Erinnern trotz – oder besser: gerade wegen der Katastrophe.
Feiern und trotzdem die Katastrophen nicht vergessen: das ist gerade heute wichtig, heute „nine eleven“
Bitteres kann und darf einerseits nicht ausgeklammert und verdrängt werden. Andererseits: Der Tod darf nicht das letzte Wort haben. Vielleicht kann in diesen Tagen die Familie Landy durch unser Zusammensein und unser Feiern die Erfahrung machen: das Leben ist stärker als der Tod, wenn Tote am Leben der Lebenden Teil-nehmen.
In unserem Feiern im Alltag gehen wir auch über den All-Tag, den Tag wie alle Tage, hinaus. Im gemeinsamen Feiern erleben wir zugleich eine Vision, wie Leben gelingen und gut werden kann. Beim gemeinsamen Essen, Erinnern und Sprechen erleben wir eine Gemeinschaft, zu der alle eingeladen sind. Bei der niemand ausgeschlossen wird - auch nicht die Opfer der Geschichte.
Kuchen wird dadurch zum Lebens-Mittel, zum Mittel für gutes Leben. Deswegen der Wunsch: guten Appetit auf den Käsekuchen, guten Appetit auf das gute Leben. – Lechaim!
Wolfgang Pauly